Samstag, 15. Januar 2011

Der nächste kleine Schritt zum Daoismus

In den neunziger Jahren nahm ich an zwei China - Reisen Teil, die von einem Institute für Traditionelle Chinesische Medizin mit Schwerpunkt Qi Gong veranstaltet wurden.

Obwohl ich im Jahre 1987 eine Qi Gong- /Tai Chi-Lehrer Ausbildung absolviert hatte, in der Absicht, meine praktischen und theoretischen Kenntnisse zu vertiefen und zu erweitern, wollte ich in China zu den Wurzeln, zu den Ursprüngen vordringen.

Auch der chinesische Hauptreferent dieses ein Jahr dauernden Qi Gong/ Tai Chi
Ausbildungs-Lehrganges war vor Kursbeginn zu einer Meisterin nach China gereist, um dort innerhalb von drei Wochen seine Tai Chi Form überprüfen und verbessern zu lassen, und sich den nötigen Feinschliff zu holen.

Ich war beeindruckt, wie sehr er sein Tai Chi Chuan qualitativ zum Besseren verändern konnte.

Mir wurde dadurch aber auch klar, dass alles, was er mir vermittelte, nicht originär, sondern nur mittelbar war.

Nun, ich reiste also nach China, um zu den Wurzeln des Tai Chi, Qi Gong und der TCM zu gelangen.

Bei beiden Reisen war neben den üblichen Besichtigungen einiger Städte und berühmter Tempel ein etwa zehntägiger Aufenthalt im daoistischen Sakral Bezirk Wudang Shan vorgesehen, wo der Unterricht in Wudang Qi Gong ein wesentlicher Programmpunkt war.

Der uns unterrichtende junge daoistische Meister hatte eine öffentliche Kampfschule in der Stadt Wudang, wo viele Kinder und Jugendliche trainierten und täglich viele Stunden übten. Sie wohnten auch in der Schule und lebten dort einige Monate. Es war ein hartes Training und erforderte unglaubliche Disziplin, alle Bewegungen, Faust- und Beintechniken, wurden synchron in Reihen von 5 bis 10 Teilnehmern ausgeführt. Es waren immer so etwa 30 Kinder und Jugendliche auf dem Trainingsplatz. Das Zusehen machte ungeheuren Spass und die Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Mädchen und Buben war beeindruckend. Sie lernten dort aber nicht nur Kampftechniken, sondern auch Selbstdisziplin und daoistisches Denken und Meditation in Stille und Bewegung kennen.

Der Meister hieß You Xuande, war damals meiner Schätzung nach Mitte Dreißig
und Meister in der 14. Generation von Zhang Sanfeng.

Seine persönlichen Schüler, alles junge Männer zwischen achtzehn und dreißig Jahren waren von ihm in einer rituellen, überlieferten Initiation als daoistische Mönche und Adepten der inneren Kampfkunst aufgenommen worden.

Sie sind die 15. Generation von Zhang Sanfeng.

Bedeutend für Zugehörigkeit zu einer daoistischen Generation ist der gemeinsame Generationsname, den jeder aus der Generation führt und der das Motto dieser Generation darstellt.

Alle Mitglieder der 15. Generation heißen „Li“ zum Zeichen der Generationszugehörigkeit.
Das Leitbild dieser Generation ist nach der Bedeutung des Wortes „Li“, „ehrlich“ und auch „klar“ zu sein.

Zum Namen „Li“ hat jeder Adept einen Zusatznamen, der das persönliches Motto oder eine zu fördernde Eigenschaft ausdrückt.

Also zum Beispiel Liyang, Liyin, Limin etc. Der Name wird vom Meister bei der Initiation gegeben.

Der Meister arbeitete mit unserer Reisegruppe und zeigte uns einige Basisübungen zu Qi Gong, einige Übungen aus dem Wudang Qi Gong und einige Bewegungen aus dem Tai Chi- Qi Gong.

Dazu hörten wir berührende Legenden und auch interessante Aphorismen aus dem Daoismus und er lehrte die allgemeinen Grundsätze der inneren Kampfkünste.

Für mich waren da nicht so viele neue Informationen dabei , sodass meine Erwartungen doch nur teilweise erfüllt wurden. Für andere Teilnehmer war alles Neuland und sie waren begeistert. Als ich beim zweiten Besuch im Wudang Shan mit einer anderen Gruppe das gleiche Programm noch einmal durchlief, fragte ich am Ende des Aufenthaltes den Meister, ob er mich auch unterrichten würde, wenn ich alleine zu ihm käme.

In einer Gruppe ist ja immer das Problem, dass man die Schwächsten dort abholen muss, wo sie gerade stehen.

Meister You schien von meiner Idee begeistert und wir fixierten den Termin auf ein Jahr später, und zwar für den September 1995. Da sollte ich, begleitet von einem Dolmetscher, wieder kommen.

Ich reiste zur vereinbarten Zeit an und wir alle wohnten im Tempel Zixiao Gong, im „Tempel zu Purpurnen Wolke“, auch „Palast der Purpurfarbigen Wolke“ genannt. Ich beabsichtigte, drei bis vier Wochen zu bleiben und meine Erwartungshaltung war ungeheuer groß.

Meine Begeisterung wurde aber ein wenig dadurch gedämpft, dass wir wieder einige Tage Basisübungen machten. Meiner Meinung nach war das doch etwas viel an Grundlagentraining. Ich fühlte mich auch nicht gerade als Anfänger und ich brannte darauf, etwas zu lernen, was ich in Europa nicht finden konnte.

Nach drei Tagen sprach ich mit Hilfe meines Dolmetschers dieses Thema beim gemeinsamen Abendessen an und machte mit aller gebotenen Höflichkeit deutlich, dass ich nicht zehntausend Kilometer geflogen wäre und meine auch nicht gerade üppige Freizeit geopfert hätte, um die Zeit in China zur Perfektionierung von einfachen Basisübungen zu verbringen und nichts Neues, nichts für mich Essentielles zu lernen.

Der Meister lächelte mich sehr verständnisvoll an, sagte aber sehr direkt, dass er mich sehr gut verstehe, dass ich aber auch wissen sollte, dass „wirklich Essentielles“ Daoistische Geheimnisse wären, die nur an seine persönlichen daoistischen Adepten der 15. Generation weitergegeben würden, nicht aber an Nicht - Daoisten, die dann ihr Wissen missbrauchen und zum Schaden anderer einsetzen könnten. .

Zur Lösung meines Problems ersuchte ich ihn spontan, mich als Schüler aufzunehmen.

Meine Affinität zur daoistischen Philosophie war ja in den vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema immer stärker geworden.

Ich empfand die asiatische Art des polaren Denkens als eine wunderbare Ergänzung zu unserer westlichen, logisch, analytischen Denkweise des Dualismus. Das polare Denken der Asiaten, und zwar aller asiatischen Philosophien, sieht zum Beispiel in den Polen eines Magneten nicht zwei unüberbrückbare Gegensätze, sondern zwei Aspekte, die einander ergänzen und gemeinsam das harmonische Ganze ergebe. Auch Yin und Yang
(weiblicher und männlicher Aspekt, weich und hart, passiv und aktiv etc., ergänzen einander zum Ganzen und bilden eine Einheit wie die zwei Seiten einer Münze.

Unser Dualistisches Denken definiert ganz klar in Gegensätzen. Etwas ist wahr oder nicht wahr, es ist, oder es ist nicht, hell oder dunkel, Recht oder Unrecht etc.

Ein tieferer Einstieg in den Daoismus war also auch aus philosophischer Sicht für mich sehr reizvoll.

Er war kurz still, dann sagte nicht zu und nicht ab. Er verwies nur auf die schon vorgerückte Stunde und meinte, er plane, unsere Übungen morgen wie jeden Tag um 6.00 Uhr früh zu beginnen..

Wir absolvierten am nächsten Morgen wie immer schweigend unsere Lockerungsübungen und auch beim Frühstück um 7.30 Uhr wurde nichts über mein Ansinnen gesprochen.

Er kündigte mir nur an, dass wir um 9.00 Uhr mit dem Unterricht einer hunderte Jahre alte daoistischen Form (zusammenhängende Bewegungssequenzen) der Inneren Kampfkunst beginnen würden.

Ich war darüber sehr glücklich und als ich die Stufen zu unserem Übungsplatz im Innenhof des Tempels voller Erwartungen hoch stürmte, wartete dort schon Meister You Xuande und übergab mir mit einem ungewohnt breiten Lächeln ein dunkelblaues Gewand der daoistischen Mönche und ein wunderbares Schwert mit außerordentlich weicher Klinge.

Er sagte, ich solle das anziehen und dann mit meinem Dolmetscher einige traditionelle chinesische Wörter für die Initiation lernen. Das sonst übliche schriftliche Aufnahmegesuch würde er mir erlassen, da er doch schon einige Zeit lang mit mir geübt hätte und schon ziemlich gut kenne.

Er tolerierte auch, dass ich in meinem Unwissen die Tradition gebrochen und formlos um Aufnahme gebeten hatte.

Kurz darauf wurde dann die Zeremonie in Anwesenheit einiger meiner Brüder der 15. Generation Zhang Sanfeng durch meinen Si Fu (Meister) im Tempel Zixiao Gong vorgenommen.

Vor der Statue des Zhen Wu (des Ahnherrn der Wudang Schule, auch „schwarzer Krieger“ genannt) kniend gab ich mein Gelöbnis ab, wurde aufgenommen und erhielt den Dao - Namen „Liqing“.

Ich war damit ein „Wudang Dizi“ geworden.

Ich hatte in den Jahren 2005 bis 2008 auch beruflich viel Zeit in China verbracht und wann immer durch einen meiner Dolmetscher bekannt wurde, dass ich ein „Wudang Dizi“,
ein „Jünger“ oder „Zögling“ der berühmten und in China hoch geschätzten Wudang Schule der inneren Kampfkünste wäre, musste ich sofort, auch in Restaurants oder Büros von Politikern etc. einige Bewegungssequenzen des Wudang Tai Yi oder Wudang Tai Chi vorführen.

Dass ein Europäer diesen Weg geht, verwunderte viele meiner chinesischen Gesprächspartner und rang ihnen doch einigen Respekt ab.

Ich musste natürlich so manches erzählen, oft solang, bis auch die letzte Flasche Reisschnaps gelehrt war. Danach war meistens meine Position und mein Standing viel besser als vorher.

Ich wurde dadurch von der Langnase (so werden wir aus dem Westen in China genannt) zu einem Gesprächspartner, dem man mit einiger Achtung und viel mehr Offenheit begegnete.

Meister You führte mir mein neues Lebensmotto durch den Namen „Liqing“ ebenfalls vor Augen.

Li das heißt „Ehrlich und Klar“ sein, das galt für jeden unserer Generation,

Der persönliche Name Qing bedeutet „ absichtslos“ sein.

Ein sehr treffender daoistischer Name für einen Mann wie mich, der sein ganzes Leben lang zielorientiertes Denken und Handeln gelernt und praktiziert hatte.

„Liqing“ ist gleichsam ein Synonym zur Kernaussage und Grundidee der klassisch daoistischen Lebensführung: „WU WEI“

„Wu Wei“, heißt „ Absichtsloses Tun“, „Tun im Nichtstun“, Wollen im Nichtwollen.








© 2011Copyright: Dr. Reinhard Hörmann

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